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Arunachala - Der Berg der Weisheit

 

Arunachala, der Berg der Weisheit 

Ein Text zum Workshop „Stille Meditationen“

 

Jede spirituelle Lehre hat ihren eigenen Charakter und prägt damit die Traditionen seines spirituellen Zentrums. Sri Ramana Maharshi, der uns den direktesten, formlosesten und am wenigsten ritualisierten Weg – nämlich den Weg der Selbstergründung durch Selbstbefragung gebracht hat, wählte den Fuß des Berges Arunachala in Südindien, um dort zu leben und die Menschen in ihrer Selbstergründung zu unterstützen.

Es heißt heute: „An Arunachala nur zu denken, bringt Befreiung.“ Denn beim direkten Weg der Selbsterkenntnis ist kein physischer Kontakt notwendig.  Sri Ramana Maharshi nannte den Arunachala das spirituelle Herz der Welt. "Aruna" bedeutet in Sanskrit "Morgendämmerung" oder "rot und strahlend hell wie Feuer", Damit ist nicht nur das physische Feuer gemeint, sondern auch das Feuer der Weisheit, das weder heiß noch kalt ist und im Erwachen des Menschen eine besondere Rolle spielt. "Achala" bedeutet Berg oder "unerschütterlich und bewegungslos". Damit bedeutet der Name Arunachala „Berg der Weisheit".

 

Es gibt eine Geschichte über die Entstehung dieses Berges, darin wird Vishnu für den Intellekt und Brahma für das Ego eingesetzt, während Shiva die Rolle des Atman, den Geiste innehat.

Es stritten sich einst Vishnu und Brahma darüber, wer von ihnen der größere sei. Ihr Streit erzeugte Chaos auf der Erde und deshalb flehten die anderen Götter Shiva an, den Streit zu schlichten.

Shiva manifestierte daraufhin eine Feuersäule, aus der heraus er erklärte: „Wer von euch das obere oder untere Ende dieser Feuersäule finden kann, ist der größere.“ Vishnu grub sich tief in die Erde, um das untere Ende zu finden, während Brahma sich in den Himmel erhob, um ihr oberes Ende zu finden. 

Vishnu fand das untere Ende der Feuersäule nicht, begann aber das höchste Licht, das im Herzen aller Wesen wohnt, in sich selbst zu sehen und verlor sich in tiefer Meditation. Er war sich dadurch seines Körpers nicht mehr bewusst und auch nicht mehr, dass er auf der Suche nach dem unteren Ende war.

Brahma, die Schöpfung, dachte, er könne durch Täuschung gewinnen und pflückte eine Blüte, von der er behauptete, sie auf dem Gipfel der Säule gepflückt zu haben.   

Vishnu, die erhaltende Kraft und das Symbol der kosmischen Liebe, gestand dagegen seinen Misserfolg ein und rief:

Du bist die Selbsterkenntnis. Du bist das OM, der Anfang, die Mitte und das Ende von allem. Du bist alles und erhellst alles.

Vishnu wurde als der Größere befunden, denn Brahman wurde entlarvt und gestand seinen Fehler ein. 

Die von Shiva erzeugte Feuersäule war jedoch zu hell und blendend, um ihren Anblick zu ertragen. Deshalb wandelte sich Shiva in den Berg Arunachala um und erklärte: „Wie der Mond sein Licht von der Sonne bezieht, so sollen alle anderen heiligen Orte ihre Heiligkeit vom Arunachala beziehen." Dies ist der einzige Ort, wo ich zum Wohle derer, die mich verehren und Erleuchtung erlangen wollen, diese Gestalt angenommen habe. Arunachala ist das OM und am Ende muss jeder auf dem Weg der Selbstergründung zum Arunachala kommen.

 

Arunachala, der Berg der Weisheit ist nicht leicht zu erklimmen und der Weg zu ihm eröffnet sich nicht jedem Menschen. Es ist auch nicht jedem Menschen bestimmt, den Weg zu Arunachala zu finden. Doch jeder wird ihn erklimmen, wenn seine Zeit gekommen ist. 

Die Wenigsten wissen um Arunachala, denn im Getriebe der Zivilisation, mitten in den Errungenschaften des menschlichen Intellektes ist der Weg zu ihm schwer zu erkennen. Aber vom Arunachala steigen immer wieder Boten hinab zu den Menschen und legen die unbenutzten Wege wieder frei, so dass sie wieder sichtbar werden. Deswegen werden diese Wege jedoch nicht einfacher zu gehen. Es bedarf einer unerschütterlichen Entschlossenheit sie zu betreten, und einer ausdauernden Kraft sie zu gehen. Diese Wege beginnen meistens dort, wo die Menschen „Leid“ oder Sehnsucht erfahren.  Leid und Sehnsucht sind die Tore, die sich erst öffnen, wenn der Mensch bereit ist, sie zu überwinden oder wenn seine Zeit gekommen ist. Dann muss er die Welt der Städte, die Welt der Gemeinsamkeiten verlassen und den Errungenschaften des Egos den Rücken kehren. Doch es erwarten ihn keine Posaune blasenden Engel, die ihn zu neuen Erkenntnissen tragen. Vielmehr findet er sich in einer schroffen, unwirtlichen Welt wieder, in der er sich überall neue Wunden und Verletzungen holt. Er kommt in eine Welt der Prüfungen, die seine Entschlossenheit auf die Probe stellen und ihm seine wahren Motive vor Augen führen. 

Hat er diese Welt der unbarmherzigen Selbstverurteilung, der Selbstkritik und Ängste durchquert, öffnet sich vor ihm eine weite Ebene, die zuerst an Trostlosigkeit nicht zu überbieten ist, aber mit jedem Schritt hin zu Arunachala, immer freundlicher wird. Irgendwann erreicht der suchende Mensch dann die milden Auen am Fuße Arunachalas. Dort wirken bereits seine transzendenten Kräfte und verwandeln die Realität des Menschen in ein herrliches Paradies, wo er allein durch Gedankenkraft alle seine Wünsche erfüllen kann.

Hier lauern ihm allerdings die Sirenen auf. Jene bezaubernden Wesen, die ihm mit ihrer Erscheinung und ihrem Gesang die Sinne betören. Hier scheint er unbegrenzte Macht zu erhalten und unbeschränktes Glück erfahren zu können. Doch wehe ihm, wenn er sich zu lange in den Auen Arunachalas aufhält und dem Gesang der Sirenen lauscht. Sein wacher Geist, der ihn durch die unwirtlichen Welten bis an diesen Ort führte, wird träge und schläft in der Sinnlichkeit und Freundlichkeit dieses Ortes wieder ein. Nur wenn er aus eigener Kraft und aufgrund seiner eigenen Motivation anfängt, selbst die Hänge Arunachalas zu ersteigen, entgeht er dieser letzten Prüfung.

Arunachala empfängt die Entschlossenen freundlich und in voller Liebe, setzt ihnen aber mit Wind und Wetter zu. Der Berg der Weisheit nimmt keine Rücksicht auf die Befindlichkeit derjenigen, die an seinen Hängen den Aufstieg wagen. Wer den Aufstieg zu unachtsam oder zu schnell macht, wird mit unbestechlicher Gesetzmäßigkeit so lange zurückgeworfen, bis er die Lektionen Arunachalas angenommen hat. Viele Leben werden hier verbracht und viele Tode gestorben. 

Die Wege den Berg hinauf sind vielfältig und es scheint für jeden Suchenden einen eigenen Weg zu geben.  Doch es gibt zwei Hauptwege: Der eine führt über die Erkenntnis und der andere über die Hingabe. Beide Hauptwege enden am Gipfel, umkreisen Arunachala jedoch in entgegengesetzter Richtung: Hingabe links und Erkenntnis rechtsherum. Bei jeder Umrundung treffen sie wieder aufeinander und erlauben dem aufsteigenden Menschen sich neu zu entscheiden. Erst am Gipfel gehen sie ineinander über.

Es sind nur Wenige, die das Gipfelplateau Arunachalas betreten und die Vereinigung von Erkenntnis und Hingabe erleben.  Diese Wenigen erleben hier oben den Schrecken der Erkenntnis zusammen mit der Heiligkeit absoluter Liebe. Arunachala zerreißt ihnen hier Herz und Verstand in einem Augenblick und schenkt ihnen einen Blick in die Wirklichkeit. Seine göttliche Natur, brennt alle Sinnlichkeit aus ihnen heraus und seine weltengebärende Kraft zerstampft ihre Körperlichkeit auf dem harten Granit seiner liebenden Intelligenz. Geblendet, zerschlagen und verwirrt, bleiben sie zurück. Sie bemerken ihre Einsamkeit, denn in den Äonen sind es nur Einzelne gewesen, die die Prüfungen Arunachalas überwunden haben. Derjenige, der sich jetzt nicht in seine Jämmerlichkeit ergibt, sondern mit all seiner verbliebenen Kraft aufsteht, wird am Gipfel stehen und in der Ebene tief unter sich einen feinen Strich sehen und wissen: Das war mein Weg! Diesen Weg bin ich gegangen und die aufbrechenden Fluten der Erkenntnistränen werden alles aus ihm herauswaschen, was Arunachala ihm angetan hat. Mit jeder Träne wird er leichter werden und schließlich durch die Wolken aufsteigen. Es ist Arunachala selbst, der ihn hinaufhebt auf die nächste Stufe der Existenz und Heilung und Sammlung schenkt. Der Berg der Weisheit setzt den neuen Menschen dann an seinem Fuße ab. Wieder findet sich der Mensch in den Auen des Berges. Hier trifft er alsbald auf Andere. Doch diesmal sind es keine Sirenen, sondern Menschen wie er selbst, die vor ihm den Weg gingen und ihn nun willkommen heißen. Es ist dann seine Entscheidung, ob er bleibt oder ob seine Sehnsucht und seine Liebe so groß in ihm sind, dass er den Aufstieg erneut wagt. 

Er erhält von der Gemeinschaft der Heiligen alle Hilfe, die er für seinen Weg braucht. Wenn er dann eines Tages aufbricht wird ihn der Geist Arunachalas in seiner persönlichen Form begleiten. Je nach religiöser Stimmung wird das für ihn ein bestimmtes Tier, ein Symbol oder eine Pflanze sein. Es wird ihn führen und leiten und nur er selbst wird diese Sprache verstehen. Der Geist Arunachalas führt den Menschen ohne Weg und Ziel immer höher, von einer Erfahrung zur nächsten und lehrt ihn so, an nichts zu haften und bei nichts zu verweilen.

Eines Tages werden sich dann die Nebelwolken lichten und Arunachalas zweiten Gipfel freigeben. So wird es weitergehen, bis der Mensch alle Ideen und Modelle aufgegeben hat, die er sich über die Wirklichkeit gemacht hat. Arunachala, der Berg der Weisheit ist ein mächtiger Lehrer und der weiseste dazu, denn er lässt seine Schüler niemals allein. Er ist immer gegenwärtig und stets besorgt, die Suchenden vor ihren selbsterschaffenen Problemen zu bewahren.  Er führt sie von Stufe zu Stufe der Existenz, bis sie in der Reflexion ihres Weges die Einheit erkennen, die schon immer war. Dann entdecken sie die wahre Form Arunachalas, die als goldene Kugel durch die Wolken scheint und in einem einzigen Augenblick verschwindet das Suchende. Nichts bleibt davon übrig. Kein Gedanke, Kein Gefühl. Keine Erkenntnis. Nur reine Liebe. 

Darin erfühlt er die feinen zitternden Fäden der Wege aller Menschen und er sendet ihnen sein erfahrenes Leid, damit sie daran wachsen. Er sendet ihnen seine erfahrene Sehnsucht, damit sie anfangen, den Weg zu suchen. Er begibt sich als Bote die Hänge seines geliebten Arunachalas hinunter, in ihre Länder und Städte und reinigt die Straßen und Wege, damit sie gefunden werden können. Gleichzeitig führt er jene, die ihn erkennen, die tausend Wege der Bergwände hinauf und tanzt als Shiva auf seinem eigenen weltlichen Gipfel. Er begleitet als Taube, Schlange, Bär und Wolf die Aufsteigenden, verdampft als Kraut in den schamanischen Feuern oder schwingt in ihren Gesängen mit. Er ist dabei, wenn ein Mensch das erste Mal seine wahre Form erblickt und zerreißt die Schleier der Unwissenheit.

Das ist Arunachala, der Berg der Weisheit.

 

Abschließen möchte ich mit einem Satz von Sri Ramana Maharshi: …

Der Körper stirbt, aber der Geist kann vom Tod nicht berührt werden! 

 

alles liebe

Hans

 

 

Wenn du mehr über den Berg der Weisheit erfahren möchtest oder mit dem Gedanken spielst, deine Meditation zu vertiefen, dann besuche eines meiner Meditations-Seminare

 

Joan liest diesen Text im Schwingkreisradio in seinen Worten zur Nacht und es gibt ihn als Podcast in der Schwingkreisradios Soundcloud.