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Freiwillige Begrenzung

Freiwillige Begrenzung

 

 

Ein weiser Mensch handelt nicht so, als wäre diese Welt real, sondern er erkennt, dass sie nichts als Illusion ist, und entgeht somit dem Leiden.

(Buddha)

 

Wenn man sich auf den spirituellen Weg begibt, weiß man am Anfang nicht, worauf man sich einlässt. Die Erkenntnis darüber entwickelt sich, indem man diesen Weg geht. Am Anfang tendiert man dazu, den eigenen Geist und seinen Körper durch übertriebene Askese und Übung zu foltern. Lockert man im Verlauf seiner Übung dann diesen Fanatismus, gerät man in Gefahr in ein liederliches und egoistisches Leben abzurutschen. Je näher man sich seiner Vollendung wähnt, desto höher wird das Risiko für eine dieser Fehlentwicklungen.

Nur der mittlere Pfad führt über diese beiden Extreme hinaus und zu Weisheit und Frieden. Deshalb wird dieser Weg der Pfad der goldenen Mitte genannt.

 

Dieser mittlere Weg wird von acht Begrenzungen definiert:

 

1.      richtige Meinung

2.      richtige Gedanken

3.      richtiges Sprechen

4.      richtiges Benehmen

5.      richtige Bewegung

6.      richtiges Bemühen

7.      richtige Achtsamkeit

8.      richtige Meditation

 

Diese Begrenzungen gehen auf die Lehre Shakyamuni Buddhas (Siddharta) zurück, der sie als Regeln zur Auslöschung der Begierden ansah. Mit ihrer Hilfe führt der mittlere Pfad aus den Verirrungen des Bewusstseins heraus und beendet deshalb das Leiden. Doch auch wenn der Weg prinzipiell aus dem Leiden führt, bist es immer noch du selbst, der über die konkrete Form der Entwicklung bestimmt. Es ist niemand da, der dir das „richtige“ in den Begrenzungen definiert. Du kannst es auch nicht bei anderen abgucken. Du kannst keinen Meister nachmachen, denn das wäre nur ein Einüben, wie beispielsweise ein Tanz eingeübt wird. Du bist auf deinem Weg auf dich allein gestellt und das ist die größte Herausforderung. Du selbst definierst die Strenge des Richtigen und du selbst veränderst deinen Fanatismus im Laufe deiner Erkenntnis.

Alle Dinge erscheinen oder verschwinden aufgrund eines endlosen Netzwerkes aus Ursachen, deren Wirkungen und den Beziehungen, die sich aus dem Netzwerk und allem anderen ergeben. Die Menschen mit fehlender Erkenntnis, sehen das Leben entweder als existent oder nichtexistent an. Sie fixieren sich auf das Existente und nennen es Licht, Hell und Gut. Vor dem Nichtexistenten laufen sie davon, fürchten es als Hölle, Chaos, Tod und Auslöschung.

Sie können nicht verstehen, dass sie über Kategorien wie Existenz und Nichtexistenz hinausreichen, ja dass sie jede Kategorie einschließen und umfassen. Die Bereitschaft zur Anerkenntnis eines grenzenlosen Selbst ist die erste und wichtigste Erkenntnis des mittleren Weges. Sie ist die Grundlage für die „richtige Meinung“. Herrschen in diesem Punkt Zweifel, wird auch der mittlere Weg nicht aus dem Leiden herausführen, denn der betroffene Mensch kann vom größeren Leben nicht erfasst werden, welches ihm die Erleuchtung des Bewusstseins schenken möchte.

 

Bleibt ein Mensch an ein Leben in Selbstquälerei gebunden, kann er die „richtigen Gedanken“ nicht kreieren, die ihm die Erkenntnisse von Nachsicht und Güte bringen und Mitgefühl ermöglichen. Erreicht er jedoch das Mitgefühl nicht, bleib er in seinem Stolz auf seine Tugenden und seine Erfolge stecken. Dann werden ihm seine schlechten Taten und seine Verblendung nicht bewusst.

Bleibt ein Mensch in der Verblendung, wird sein Ego jede Erkenntnis für sich reklamieren und es kann sich weder echte Demut noch Dankbarkeit entwickeln. Solche Menschen bleiben in ihrer vermeintlichen spirituellen Entwicklung stecken. Sie sehen das Streben nach Erleuchtung als höchstes Ziel an und messen alles andere daran.  Ihre Fixierung auf das Erreichen der Erleuchtung bringt sie vom mittleren Pfad ab und sie verirren sich in der Wildnis der geistigen Unendlichkeit.

Jemand der nach dem strebt, was mit „Erleuchtung“ beschrieben wird und sich nicht gleichzeitig vor dem Erreichen dieses Ziels fürchtet, geht nicht den Weg der Mitte. Das Wesentliche auf dem Wege zur Erleuchtung ist, dass man sich niemals in Extremen verfängt; auch nicht, was den eigenen Weg angeht. Nur wenn man bereit ist den Impulsen des eigenen Herzens zu folgen und die acht Begrenzungen des mittleren Weges freiwillig und frohen Mutes zu befolgen, wird man das erleben, was als Erleuchtung gilt.

 

Indem man sich immer wieder daran erinnert, dass die Dinge der Welt und auch die des Bewusstseins weder existieren noch nicht existieren, sondern nur traumhafte Halluzinationen eines unbegrenzten Geistes sind, kann man sich von den illusionären Verhaftungen an die Dinge befreien. Indem man in seiner Entwicklung begreift, dass sogar die eigene Persönlichkeit, das eigene „ich“ keine wirkliche Substanz hat, sondern nur eine Anhäufung von Wirkungs-Beziehungen ist, löst man den Stolz seiner Persönlichkeit auf und vermeidet vom Lobpreis für seine gute Taten oder den Tadel für die schlechten ergriffen und darin verwickelt zu werden.

 

Wenn du vermeiden willst in dem Strom deiner Wünsche gefangen zu werden, musst du gerade am Anfang lernen, nicht nach den verlockenden Dingen zu greifen, damit du dich nicht an sie gewöhnst und dich dadurch an sie bindest. Du darfst dich weder an die Existenz noch an die Nichtexistenz von irgendetwas noch an irgendetwas im Innern oder Äußeren noch an gute oder schlechte Dinge oder an Richtiges oder Falsches binden. Denn wenn du dich an Dinge, Ansichten und Gedanken bindest, beginnt genau in dem Moment urplötzlich das Leben der Verblendung. Folgst du dem mittleren Pfad zur Erleuchtung, wirst du weder an Schmerzen festhalten noch an Erwartungen oder Überzeugungen. Du wirst einfach mit einem mitfühlenden und friedvollen Geist allem begegnen, was auf dich zukommt. So wirst du deinen Herzenswunsch erreichen. Die Erleuchtung hat nämlich weder eine bestimmte Gestalt noch ein bestimmtes Wesen, durch die sie sich selbst offenbart. Es gibt in der Erleuchtung nichts, das erleuchtet werden müsste. Nicht einmal dich oder die Dinge. Das, was Erleuchtung genannt wird, existiert nur weil es Verblendung und Unwissenheit gibt. Wenn sie verschwinden, wird auch die Erleuchtung nicht mehr existieren. Und nun denk darüber nach, dass Verblendung und Unwissenheit nur existieren, weil Menschen nach Erleuchtung streben. Wenn das eine aufhört, wird auch das andere aufhören.

 

Hüte dich vor der Idee, dass „Erleuchtung“ ein „Ding“ ist, dass man denken oder nach dem man greifen kann, sonst wird diese Idee zum Hindernis. Wenn dein im Dunklen befindliches Bewusstsein, erleuchtet wird, so wird es einfach vergehen und mit ihm die Welt, die du kennst. Indem es vergeht, stirbt auch die Idee der Erleuchtung. Solange Menschen nach Erleuchtung verlangen und nach ihr greifen wollen, bedeutet es, dass sie noch verblendet sind. Deshalb darfst du auf dem Weg der Erleuchtung nicht danach verlangen, denn dein Verlangen, deine Absicht und dein Ziel binden dich an die illusionäre Welt der Halluzinationen.

Wenn du dann einmal in die Erleuchtung gelangst, darfst du dich nicht an diese Erfahrung binden. Sie ist nicht mehr oder weniger als die Luft, die bei jedem Atemzug durch deine Lungen strömt. Solltest du Erleuchtung erlangen, aber dich dennoch an dem Begriff „Erleuchtung“ festhalten, ihn als etwas ansehen, dass dich auszeichnet und besonders macht, dann kannst du dir sicher sein, dass diese Erfahrung dir selbst zur hinderlichen Verblendung geworden ist. Deshalb solltest du den acht Regeln des mittleren Pfads folgen und aufhören dir Gedanken über „richtig“ und „falsch“ zu machen. In dem Augenblick, indem deine Gedanken, deine Gefühle, deine Leidenschaften und Ängste in der Erleuchtung eins geworden sind, wirst du die Wahrheit und Wirklichkeit erkennen.

Dann erübrigen sich alle weiteren Gedanken und Gespräche. Dann bist du wissend und Teil der allumfassenden Einheit, die ihrem Wesen nach keine unterscheidenden Merkmale hat. Diese Einheit wird „Leerheit“ genannt und das meint: „ohne eigene Existenz“. Es ist Dasjenige ohne ein Zweites, das zeit- und raumlos, ohne eigenes Substanz existiert. Es ist Dasjenige, das Bewusstsein gebiert, aus dem Welten und alle Dinge entstehen, aber selbst keine Gestalt oder Wesenszüge hat.   

Es gibt nichts, dass über dieses Wesen der Dinge gesagt werden könnte. Deshalb werden die Dinge leer genannt, weil sie aus der Leere erscheinen und wieder verschwinden. Erst durch die Wahrnehmung der Dinge durch unser Bewusstsein erhalten sie eine Existenz im Netzwerk des Zusammenwirkens von Ursachen und Wirkungen. Nichts existiert für sich ganz allein. Alles steht mit allem anderen in Beziehung. Wo immer Licht ist, ist auch Schatten. Wo immer es Dinge gibt, gibt es auch Räume und Zeiten. Deshalb müssen wir die Leere zulassen, wo immer wir unser Wesen oder die Wirklichkeit erklären wollen. Dinge haben kein Eigenwesen, sondern sind Interpretationen des Bewusstseins, aber auch das Bewusstsein hat keine eigenständige Existenz, sondern ist aus der Leere geboren. Nur dieses Eine ist, aus dem alles entsteht. Aus genau demselben Grund kann weder die Erleuchtung von der Unwissenheit getrennt existieren noch die Unwissenheit getrennt von der Erleuchtung. Wenn sich die Dinge im Grunde ihrer Natur nicht unterscheiden, wie kann es dann Trennung geben?

 

Wenn du also auf die Idee gekommen bist, dich, warum auch immer, spirituell weiterzuentwickeln und angefangen hast zu meditieren oder dies bereits viele Jahre lang tust, dann wende genau so viel Zeit für die Pflege deines Alltags auf, wie du es für deine Meditation oder spirituellen Übungen tust. Denn nichts ist wirklich voneinander getrennt. Möhren schälen, Kartoffeln kochen, den Hund füttern und das Bad putzen ist um nichts weniger spirituell als sich hinzusetzen, in die Stille zu gehen oder philosophischen Gedanken zu folgen. Denn du bist bereits in der Erleuchtung, aber in deiner Unwissenheit glaubst du, sie dir schwer erarbeiten zu müssen. Dass du mir das jetzt nicht glaubst, ist ein Zeichen für deine Verblendung. Hab acht! Nicht nur die materielle Welt lockt dich mit ihren Verführungen, auch das Bewusstsein enthält Irrwege.

Alles liebe

Hans