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Die Tücken des idealen Selbstbilds

Die Tücken des idealen Selbstbildes

 

Ich möchte dich heute fragen, welche Maßstäbe du bei dir verwendest, wenn du dich in Streitsituationen verunsichern lässt. Es ist ja nicht so, dass du immer verunsichert bist, aber in manchen Situationen wirst du sicher das Gefühl haben, dass da ein anderer irgendwelche Knöpfe drückt, die dich zu einer Handlung bewegen, die nicht mit dem übereinstimmt, was du eigentlich tun möchtest. Das ist zwar nicht angenehm, aber sei froh darüber, dass du es überhaupt merkst, denn nur wenn dir diese Dissonanz bewusst wird, kannst du etwas für dich tun.

Selbst wenn du ein positives Selbstbild hast, bist du nicht vor diesen "Knöpfchen" gefeit. Zumindest nicht im ersten Moment, denn du musst ja die Dissonanz erkennen, die durch den oder die anderen ausgelöst wird. Die Knöpfchen sind im Laufe deines Lebens entstanden. Es sind Rückstände deines überlebten "ich", Reste aus Lebensrollen, die alle in der Vergangenheit liegen. Diese Vergangenheit lebt ja in dir mehr oder weniger aktiv weiter. So wie da in der Mehrzahl positive Erinnerungen sind, gibt es aber auch die Erinnerungen, die nicht so schön sind: negative Erfahrungen, Erniedrigungen, Verletzungen, Verlassenheitsgefühle und Ohnmacht. Das sind die Erinnerungen, die unter einem ganzen Stapel von angstauslösenden Wolldecken in dir versteckt sind. Du bewertest diese Erinnerungen als negativ, schädlich und schmerzhaft. Deshalb hast du sie normalerweise versteckt und versuchst durchs Leben zu kommen, ohne sie erneut anzurühren. Nur die Wenigsten haben in einem therapeutischen Prozess, diese Wolldecken aufgehoben und drunter geschaut. Bildlich gesprochen sind dabei dann die Ratten aus ihren Löchern gekrochen und sind vor dem Licht weg gerannt. Dann hast du es geschafft aus dieser Selbstzweifel-Spirale zu entkommen. Doch wir sind Menschen mit einem überaus komplexen Bewusstsein und niemand kann von sich sagen, dass es keine "Knöpfchen" mehr in ihm gibt. Dieses Ideal ist nicht zu erreichen. Wir können uns nur diesem inneren Ideal annähern, welches sich obendrein mit der Lebenszeit immer wieder verändert.

 

Die Funktion der "Trigger" beruht auf der negativen Bewertung des eigenen Verhaltens in der Vergangenheit. Sobald man einmal begriffen hat, das kein Augenblick im Leben bewusst negativ gelebt wurde, sondern nur mehr oder weniger unbewusst. Durch die kleinere Bewusstheit, die jeder von uns in der Vergangenheit hat, erschienen oft auch keine Alternativen zu getroffenen Entscheidungen. Aus der heutigen Perspektive sind diese Alternativen natürlich da und wir wundern uns, warum wir damals so und so reagiert haben. Dieses Wissen, dass wir in der Vergangenheit immer unbewusster sind als Jetzt stellt den "Knackpunkt" dar, der die Aufgabe der Selbstzweifel und Selbstvorwürfe auflöst.

Jeder, der dieses Wissen begriff, kam aus seiner Selbsthass-Selbstvorwurfs-Spirale heraus und reduzierte so die Anzahl der Knöpfchen, die von anderen gedrückt werden konnten.

 

Wenn man das erreichen will, bedeutet es aber auch, dass man den Kopf nicht in den Sand stecken darf und glauben, es ginge mit der Zeit schon ganz von allein weg. Es wird unspürbar, sicher, aber nur weil die empfindlichen Stellen mit  weichen Wolldecken abgedeckt werden. Je empathischer man ist, desto unmöglicher wird es zu vermeiden, dass diese versteckten Trigger nicht dauern feuern. Das Leben wird dadurch qualvoll und schwer.

 

Nun, wenn wir das nicht wollen, dann bauen wir uns ein neues Selbstbild auf. Eines, indem die Knöpfchen nicht mehr vorhanden sind. Einerseits ist das unumgänglich, denn wir müssen ein Bild von uns selbst haben. Andererseits dürfen wir nicht versuchen, auf „Teufel-Komm-Raus“ dieser Idealvorstellung unserer selbst auch zu 100% zu entsprechen.

 

Je mehr wir gekämpft haben um die Knöpfchen loszuwerden, umso höher werden die Erwartungen, die wir an uns selbst stellen. Das führt dann wieder zum Stress, sich selbst nicht zu genügen. 

 

Was ich damit meine?

 

Mein Selbstbild sagt mir, dass ich als Mensch hilfsbereit, tolerant, sozial, freundlich und rücksichtsvoll und liebenswürdig sein muss. Ich darf auf keinen Fall egoistisch, verärgert, missgelaunt, ungerecht usw. sein. Ich muss mich in dieser Gesellschaft anpassen, dann wäre alles so wie ich sein möchte.

 

Doch das ist im Lebensalltag nicht machbar. Sobald ich mein ideales Selbstbild lebe, zwinge ich  mich in sein Korsett und die Folgen sind Atemnot, Einengung, Starrheit und letztlich wieder ein Absturz in die Selbstvorwürfe. Eben weil ich nicht in der Lage bin, dem Ideal nach zu leben. Meistens breche ich mit meinem Selbstbild, wenn ich einen direkten Kontaktabbruch auslöse, unfreundlich bin und sehr direkt und egoistisch handle. Sobald ich danach wieder zur Ruhe komme, werde ich mir meiner "Verfehlungen" gegen mein Selbstbild bewusst und merke aber, wie befreiend das war. Gleichzeitig setzen dann die Selbstvorwürfe wieder ein, weil ich meinem Ideal untreu geworden bin.  

 

Gerade beim Rücksicht nehmen auf andere und beim Verständnis für alles und jedes zeigen, drohen diese Fallen. Mein inneres Ideal zwingt mich dann, meine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren, sie als unwichtig anzusehen oder mich selbst als egoistisch zu erleben. Das darf nicht sein!

 

Es gibt niemanden, der wichtiger ist, als man selbst. Zumindest nicht, solange man nicht mit einem höheren Bewusstseins-Raum gesegnet ist. Das ist gerade in Beziehungen ein großes Problem. Hier glauben wir nämlich, dass sie nur bestehen bleiben, wenn man seine Bedürfnisse zurückstellt, für alles, was der andere tut, Verständnis hat und gleichgültig wie sehr man damit zurecht kommt, es ertragen muss. 

 

Das erwarten wir ganz unbewusst von uns selbst. Alles andere wäre Egoismus und so schrauben wir unsere eigenen Bedürfnisse nach und nach herunter und geben uns mit immer weniger zufrieden. Bis wir dann endlich auf dem harten Boden des Höhlenlebens aufschlagen und alle Freude in Unglück, Trauer und Unzufriedenheit umgeschlagen ist.

Dann fängt die Zeit des "Heulens" an: Hätte ich doch nur, wäre ich nur ... usw. Die Trauer über das eigene Versagen kann so groß werden, dass sie in einer krankhaften Depression mündet.

 

Mach dir nochmal klar: Alles nur durch versteckte "Knöpfchen" ausgelöst, die bewusst oder unbewusst durch deine Mitmenschen gedrückt werden, dich unbewusst beeinflussen und du dich dann fragst, ob du  überhaupt so empfinden darfst.

 

Ich mach es kurz. Was immer du über dich denkst: DU BIST EIN MENSCH!

Menschen dürfen jedes Gefühl haben und leben. Es gibt keine Vorgaben, wie ein Mensch zu sein hat, auch wenn wir uns selbst durch unser ideales Selbstbild beschränken. Diese Beschränkung können wir selbst umbauen und dann haben wir auch keine Knöpfchen mehr, die ein anderer drücken kann ... oder fast keine.

 

Den "Anderen" ist es natürlich niemals Recht, wenn du deine Knöpfchen auflöst. Sie verlieren Kontrolle und Macht über dich. Das wollen sie nicht und nutzen ihre Kenntnisse oft aus, um dich an deiner Befreiung zu hindern. Aber es sind nicht alle Menschen so. Es gibt auch jene, die dir helfen wollen deine Knöpfchen loszuwerden. Aber auch sie sind gezwungen, sie zu drücken. Jedoch tun sie es aus einer ganz anderen Absicht heraus. Diese unterschiedlichen Absichten sind oft nicht leicht zu unterscheiden und müssen anhand anderer menschlicher Kriterien bewertet werden.  

 

Einfach gesagt: Du musst nicht für alles Verständnis haben und deine Bedürfnisse sind niemals unwichtig. Dadurch bist du noch lange kein Egoist. Lügen, Untreue, Erniedrigung und Missachtung sind nichts, was ein Mensch ertragen muss. Niemand ist auch dafür verantwortlich, dass es jedem gut geht. Es ist unmöglich es jedem Recht zu machen. Als Mittel deine Grenzen zu wahren, sind auch Wut, Aggression und direktes Ansprechen des Themas ohne Rücksicht auf den anderen angemessen. Wenn man nicht versucht perfekt zu sein, mit sich tolerant umgeht und sich so gibt, wie man im Moment eben ist, dann reagiert man meistens der Situation entsprechend richtig. Auch wenn das dem idealen Selbstbild widerspricht.

 

Man muss helfen, wenn man kann, man muss Rücksicht nehmen, wenn man kann.

Man muss Verständnis zeigen, wenn man will und tolerant sein, wenn möglich.

Die Grenzen sind fließend. Ein Gewitter im Sommer ist kein Unglück, so wie ein Verstoß gegen das "so bin ich" auch kein Unglück ist. Es ist viel öfter eine Chance auf die Erkenntnis, was man alles noch sein kann. Auch wenn es erstaunt. Niemand sollte über sich in Schwarz-Weiß denken. Ein positives Selbstbild ist eine gute Sache, aber es hat keinen Anspruch auf präzise Umsetzung. Die Werte "positiv" und "negativ", "gut" und "böse" sind ja nur Definitionen im eigenen Bewusstsein, das wir für einen begrenzten Zeitraum benutzen. 

 

Gefühle sind Gefühle. Sie dürfen sein. Egal was unser Selbstbild dazu sagt, denn das Selbstbild ist ja nur Ideal und damit auch nur eine Sammlung von Wünschen. Ob es wirklich so wichtig ist, sich daran zu halten, kann man erst entscheiden, wenn man eine zeit lang sein Leben ohne Stress verbracht hat. Dann nämlich gibt es keinen Kontrast mehr zwischen dem Selbstbild und dem Sein in der Welt. Das ist letztlich, was uns zufrieden und glücklich macht: Resonanz nach Innen und Resonanz nach außen. Dabei kann schon passieren, dass man ganz anders ist als alle anderen und auch anders, als man glaubt zu sein. Ohne Kontrast verliert sich die Möglichkeit darüber nachzudenken und man fällt automatisch in das "so sein". Erst wenn wieder Kontraste entstehen, setzt die Reflektion des Denkens erneut ein. Dann wird mir bewusst, dass ich anders bin. Doch bin ich dadurch schlechter oder besser?
Kann ich mich so annehmen wie ich bin, werde ich auch von anderen so angenommen und kann sie in ihrer Andersartigkeit annehmen.  

 

alles liebe 

Hans